Alte Heimat, neue Heimat – SchülerInnen berichten (IV)
Kamal, 20 Jahre alt und Mahmoud, 19 Jahre alt, sind Brüder, besitzen bereits beide die Fachoberschulreife und besuchen nun gemeinsam dieselbe Klasse, um durch einen zweijährigen Bildungsgang der Höheren Berufsfachschule Informationstechnik den schulischen Teil der Fachhochschulreife zu erlangen. Die Brüder kommen aus Latakia, der einzigen großen Hafenstadt Syriens am Mittelmeer. Latakia gilt als syrische Hauptstadt der Alawiten, weil fast 60% der Bevölkerung sich zum alawitischen Glauben zugehörig fühlen. Die syrischen „Alawiten“ muss man allerdings von den türkischen bzw. kurdischen „Aleviten“ unterscheiden, die wir vor allem in Deutschland kennen, weil es zwei verschiedene Religionsgemeinschaften sind. Die „Alawiten“ und „Aleviten“ haben ihren eigenen Glauben und ihre eigenen Rituale. Wenn Kamal und Mahmoud an ihr Leben in Syrien zurückdenken, haben Sie schon ab und zu Heimweh, vor allem Sehnsucht nach ihren Verwandten, aber sie wissen sehr zu schätzen, dass sie hier in Sicherheit und Freiheit leben können. „Kleine Gründe reichten, um dort verfolgt zu werden. Schon ein Muslim zu sein, der ein Sunnite ist und kein Alawite, konnte gefährlich sein.“ 2012 haben beide erst versucht mit ihrer Familie nach Jordanien zu fliehen, was misslang, sie kamen dann 2014 in die Türkei und flohen Ende 2015 weiter nach Deutschland. Sie waren erst in einem kleinen Dorf Nähe Lübbecke untergebracht und waren im Status der Duldung. Da ihr Onkel in Köln lebt, wollte die Familie in seine Nähe ziehen. Er kam bereits als Student nach Deutschland und arbeitet nun seit 17 Jahre als Medizintechniker in einem Krankenhaus. Ihr Onkel half ihnen mit all der Bürokratie. Denn schwer war es vor allem am Anfang: Ämter, Formulare, eine neue Sprache erlernen, Wohnungssuche, dazwischen Sorge um die Verwandten, die Großeltern, die man zurückließ und Heimweh. Mahmoud empfand es aber am Ende auch als positiv: „Man war auch stolz, so viel geschafft zu haben, Vieles alleine hinkriegt zu haben, man wurde irgendwie selbstbewusster, reifer, mutiger“. Kamal und Mahmoud sind durch ihre Geschichte und eigene Erlebnisse sensibilisiert, wenn es um das Thema Diskriminierung und Rassismus geht und begrüßten z.B. Gäste der Initiative „Meet A Jew“ im Religionsunterricht sehr herzlich, weil sie auch aus ihrem Heimatland wissen, wie schlimm Antisemitismus ist. Auch in ihrer Klasse oder im Schulgelände in den Pausen achten sie darauf, dass keiner ausgegrenzt oder benachteiligt wird. „Hasst nicht Menschen aufgrund von Äußerlichkeiten, ihrer Nationalität oder Religion, sondern setzt Euch für sie ein“, sagt Mahmoud, der leider auch schon erlebt hat, dass ein Mitschüler in der vorherigen Schule ihn und andere beleidigte, einfach, weil dieser Schüler alle beleidigte, die keine Kurden sind. Großartig war aber die Erfahrung, dass ein deutscher Mitschüler Mahmoud in Schutz nahm und Courage zeigte. Diese Solidarität tat ihm gut und hat ihn stark gemacht. Kamal bestätigt, dass es gut ist, dass in den Klassen heute viele Schüler irgendeinen Migrationshintergrund haben, „weil sich die Freundeskreise mischen, man andere Traditionen und Kulturen kennenlernt und so mehr Toleranz entsteht. Integration muss von beiden Seiten geschehen, es ist keine Einbahnstraße, jeder kann doch von jedem etwas lernen.“ Heimat ist für Mahmoud und Kamal ein Ort, „wo man sich geborgen fühlt und mit seiner Familie in Sicherheit leben kann, ohne Angst zu haben, dass z.B. der Vater verhaftet oder getötet wird. Deutschland ist für uns mittlerweile eine neue Heimat geworden, da wir aus den genannten Gründen nicht mehr in Syrien leben können, auch wenn wir unsere alte Heimat ab und zu vermissen.“
Eva Zoske-Dernóczi