Mein Großvater war Häftling Nr. 99998 in Auschwitz
Willi Moritz Kessler wurde am 18. Oktober 1925 in Berlin geboren und starb 1993 im Rhein-Sieg-Kreis. Er wuchs in einer jüdischen Familie auf und war der Einzige seiner Familie, der die Gräuel überlebt hat. „Einer muss überleben“ – dieses Motto ihres Großvaters beeindruckte Melissa Quint, seine einzige Enkelin, so sehr, dass es ihr selbst zur Motivation wurde, anderen über das Leben ihres Großvaters zu berichten. Pfarrerin Eva Zoske-Dernóczi hatte sie zum Holocaust-Gedenktag am 27. Januar eingeladen, einen Vortrag über sein Leben zu halten. Wir, die 11. und 13. Jahrgangsstufe des Beruflichen Gymnasiums, hörten ihr gebannt zu. Sie selbst bezeichnet sich als „Zeitzeugin der dritten Generation“, weil sie die Geschichte ihres Großvaters weitererzählt, um an die Opfer und Gräuel der Nationalsozialisten zu erinnern.
Ihr Großvater führte ein einfaches Leben, seine Eltern waren Juden, hatten aber keinen besonderen Bezug zur Religion, trotzdem wurden sie, wie viele andere jüdische Mitbürger, in der Zeit des Nationalsozialismus inhaftiert. Er überlebte als einziger seiner Familie zwei Konzentrationslager der Nationalsozialisten: sowohl das Konzentrationslager in Auschwitz als auch in Buchenwald. Leider starb er wenige Jahre vor der Geburt seiner Enkelin Melissa, sodass sie ihn nicht persönlich kennenlernen konnte. Er hinterließ seiner Familie aber Collagen aus Zeitungsartikeln, eigene Gedichte, Tagebucheinträge und Aufsätze. So konnte seine Enkelin Einblick in das Schicksal seiner Familie erhalten.
Melissa Quint nahm 2010 als Schülerin der 6. Klasse des Anno-Gymnasiums, angeregt durch ihre Schulpfarrerin Annette Hirzel, die Bilder ihres Opas in die Schule mit und zeigte sie im Religionsunterricht. Der Anlass war damals der Besuch von Naftali Fürst, der als Zeitzeuge zu ihrer Schule kam, um als Überlebender der Schoah von seinem Leben zu berichten. Er hatte ebenfalls dieselben zwei Konzentrationslager überlebt wie Melissas Großvater. Melissa begann daraufhin, angeregt durch diesen Besuch, die Geschichte ihres Großvaters Willi Moritz Kessler zu recherchieren, der als Häftling Nr. 99998 in Auschwitz registriert gewesen war und haarscharf an der Nummer 10000 vorbeigekommen war, was die sofortige Tötung geheißen hätte. Seine Enkelin erkundete sein Leben von seiner Kindheit, bis zur Deportation und dem Todesmarsch bis hin zur Befreiung am 11. April 1945 in Buchenwald. Nur ein paar Fotos blieben ihm als letzte Erinnerung an seine ermordeten Eltern, seine beiden Brüder und seine Schwester übrig, die er nach dem Krieg in einer Kommode im Haus seiner Eltern in Berlin fand. Melissa Quint half bei ihrer Recherche, dass sie auf Interviews aus den 1980er Jahren zurückgreifen konnte, die Studenten der Universität Bonn mit ihrem Großvater geführt hatten. Melissa erhielt im Jahr 2015 Archiv-Unterlagen über ihren Großvater auf einer Schulfahrt zur Gedenkstätte Buchenwald, sodass sie dann als Oberstufenschülerin die bewegende Lebensgeschichte ihres Großvaters und seiner Familie nach und nach immer besser nachvollziehen konnte. Der unglaubliche Überlebenswille ihres Großvaters wird durch den Satz deutlich, der ihn antrieb: „Einer muss überleben!“
Wir hörten beeindruckt ihrem Vortrag über ihren Großvater zu und sahen uns auch seine Collagen an, die dokumentieren, dass er bis ans Ende seines Lebens aufarbeiten musste, was ihm widerfahren war. Zum Abschluss las Melissa ein Gedicht ihres Großvaters vor, dem sein Wunsch leider verwehrt blieb, noch einmal an den Ort des Grauens zurückzukehren, um sich von seiner dort ermordeten Familie zu verabschieden. Für die anschließenden Fragen der Schülerinnen und Schüler nahm sich Melissa Quint noch einmal viel Zeit. Alle waren sehr berührt von der faszinierenden Lebensgeschichte ihres Großvaters, die eine neue Sichtweise auf die Gräueltaten warf. Die Schülerinnen und Schüler waren sehr dankbar, dass sie so tief und nah aus der Geschichte ihres Großvaters berichten konnte. Ein großer Dank geht auch an Pfarrerin Eva Zoske-Dernóczi, die den Besuch von Melissa Quint an unserer Schule organisiert und ermöglicht hat.
David Krentz, GT22A