Alte Heimat, neue Heimat – SchülerInnen berichten (I)
Am Carl-Reuther-Berufskolleg in Hennef treffe ich täglich viele Schülerinnen und Schüler mit interessanten Biografien, die aus unterschiedlichen Ländern zu uns gekommen sind. Sie leben alle an anderen Orten, besuchen verschiedene Bildungsgänge und Schulbereiche. Jedoch eint sie ihre Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen, berufliche Wünsche zu verwirklichen und hier ein neues Zuhause zu finden. Von Eva Zoske-Dernóczi
Flucht vor einer Zwangsheirat
Die zwanzigjährige Sahar (Name geändert) kam vor zwei Jahren aus dem Iran nach Deutschland. Sie besucht unser Berufskolleg, um ihre Fachoberschulreife nachzuholen, die sie eigentlich durch ihre iranische Schulzeit längst besitzt, da sie im Iran kurz vor dem Abitur stand. Sie vermisst ihre alte Heimat nicht, „nur meinen Vater vermisse ich ab und zu, auch weil wir kaum Kontakt haben dürfen. Denn er ist dortgeblieben, weil er seine alten Eltern versorgen muss“, so Sahar. Ihre Mutter floh mit ihr und ihrem Bruder aus dem Iran, weil „Frauen keinen Wert haben. Frauen sind nur da, um Kinder zu gebären. Die Regierung schreibt vor, dass die Männer der Familie entscheiden, ob die Frauen studieren oder arbeiten dürfen. In meiner Familie war es so, dass sie mich zwingen wollten, die Schule abzubrechen, um zu heiraten. Da meine Mutter bereits dasselbe Schicksal erlitten hatte, wollte sie das bei mir verhindern, daher sind wir geflohen.“ Sahars Mutter hatte viele Probleme mit ihrem eigenen Vater, der sie schlug und sie sehr jung verheiratet hatte, daher wollte sie, „dass wenigstens wir in Freiheit leben können“, so Sahar.
Tarnung der Flucht als Rundreise durch Europa
Sahars Mutter hatte die Flucht aus dem Iran als Rundreise durch Europa getarnt: „Meine Mutter tat der Verwandtschaft gegenüber so, als würden wir einfach eine Reise machen und dann zurückkehren. Wir waren erst in Ungarn, dann in Österreich und dann in Deutschland. In Frankfurt gingen wir heimlich vom Reiseveranstalter weg und stellten dann einen Asylantrag. Nach dem Flüchtlingscamp kamen wir in ein Asylheim.“ Was Sahar als sehr schwierig erlebte, war vor allem diese Anfangszeit in Deutschland, denn durch die Pandemie half niemand bei der Suche nach einer Wohnung, dem Sozialamt oder Deutschkursen. Sie mussten selbst alle Ämter finden, suchten zum Teil stundenlang danach, weil sie durch die Sprachbarrieren große Schwierigkeiten hatten, nach dem Weg zu fragen. Eins fällt auf, wenn man mit Sahar spricht, dass sie sehr schnell und gut Deutsch gelernt hat und sehr wachsam und aufmerksam zuhört. Als ich sie auf ihre guten Sprachkenntnisse anspreche, antwortet sie lächelnd: „Ich bin jetzt der Vater der Familie. Meine Mutter spricht noch nicht so gut Deutsch, daher muss ich jetzt alles machen: Anträge ausfüllen, zu Ärzten mitgehen und übersetzen, die Dokumente vom Sozialamt und der Ausländerbehörde ausfüllen.“ Es gab dann doch eine Schulleiterin, die Sahar und ihrer Familie half, die richtigen Behörden anzurufen und Termine zu vereinbaren, aber insgesamt waren die letzten zwei Jahre sehr anstrengend und herausfordernd.
Durch das Jugendamt gab es schöne Erlebnisse
Durch ein Jugendamt konnten sie in den letzten zwei Jahren dann doch auch ein paar gute Erlebnisse sammeln: Ausflüge machen, die ihr ihre Mutter nicht hätte bezahlen können und die für sie und ihren Bruder wichtig waren. Für diese Erlebnisse ist sie sehr dankbar: „Wir waren z.B. im Phantasialand, haben Ausflüge unternommen, gemeinsam gekocht oder sind Skatboard gefahren, das war toll“, schwärmt sie.
Meinungsfreiheit, Fahrrad fahren und selbstbestimmt leben
Noch hat ihre Familie den Aufenthaltsstatus der Duldung, was das Leben der Familie einschränkt. Zum Beispiel müssen sie diesen Status alle sechs Monate erneuern, dürfen keinerlei Verträge abschließen und müssen immer vor Ort bleiben. Aber Sahar hofft, dass sie bald die gute Nachricht erhalten, hier bleiben zu dürfen. Im Iran war ihr Traum Pharmazie zu studieren, um Apothekerin zu werden. Aber jetzt hat sie einen großen Gefallen an Informationstechnologie bekommen und liebt Mathe und Physik, „zumal man dafür nicht so viele Sprachkenntnisse benötigt, Mathe ist sozusagen wie eine eigene internationale Sprache“. Heimat ist nach Ansicht Vieler der Ort, an dem man geboren wird, aber für Sahar ist es der Ort, „an dem man sich wohlfühlt und Menschen nicht nach ihrem Geschlecht bewertet werden. Für mich ist Deutschland meine Heimat, weil ich hier als Frau einen Wert habe, während im Iran nur Männer einen Wert haben.“ Was sie an ihrer neuen Heimat Deutschland genießt ist die Meinungsfreiheit und die Freiheit gerade als junge Frau: „Ich kann alle Bücher lesen, die ich möchte und ich kann Fahrrad fahren. Das genieße ich so. Im Iran dürfen Frauen kein Fahrrad fahren, nur weil Männer sagen, dass man dann die Figur einer Frau genau sehen kann und sie das nicht wollen!“ Sie möchte unbedingt hier in Deutschland eine neue Heimat finden und ist dankbar, dass ihre Mutter vor zwei Jahren so eine mutige Entscheidung für sie und ihren Bruder getroffen hat.